Sehen wir das Gesamtbild unseres heutigen Lebens nur mit unseren Augen an, so können wir die Folgerung ziehen, daß dieses Gebilde einen chaotischen Charakter trägt, und es kann uns nicht wundern, daß diejenigen, welche sich in diesem scheinbaren Chaos unwohl fühlen, der Welt entfliehen oder sich in geistigen Abstraktionen verlieren wollen. Doch jedenfalls muß es uns klar sein, daß diese Flucht vor der Wirklichkeit ein ebenso großer Irrtum ist wie jene Anlehnung an den reinsten Materialismus. Weder die Flucht in das Mittelalter, noch der von verschiedenen Kunsthistorikern empfohlene Wiederaufbau des Olympos kann und die Lösung bringen. Unsere Zeit hat eine andere Mission zu erfüllen als die des Mittelalters und des Hellenismus. Um die Aufgabe unserer Zeit richtig zu verstehen, ist es notwendig, daß wir nicht nur mit unseren Augen, sondern vielmehr mit unseren innerlichen Sinnesorganen die Lebensstruktur erfassen. Haben wir einmal die Synthese des Lebens aus der Tiefe unseres Wesens gewonnen und als Inhalt von Kultur und Kunst anerkannt, so wird es uns nicht schwer fallen an Hand von Dokumenten, die uns die Tradition liefert, der Lösung des Problems näher zu kommen. Nicht wir allein ringen um die Lösung des Kunstproblems, sondern viele Generationen haben darum gerungen. Die Bestätigung hierfür finden wir in allen bedeutenden Werken der Tradition. Mögen diese Kunstäußerungen für unsere optischen Empfindungen auch noch so verschieden sein, für unsere innerlichen Sinneswerkzeuge erscheint jede menschliche Schöpfung nur als die Oberfläche eines sich in unserem Wesen abspielenden Kampfes.
Und worin besteht nun eigentlich dieser Kampf, der sich nicht nur in Kunst, Wissenschaft, Philosophie und Religion abspielt, sondern der sich auch in unserem täglichen Leben als Kampf um geistigmaterielle Existenz zeigt.
Jedes Kunstwerk, vergangen oder gegenwärtig, gibt darauf eine Antwort.
Dieser Kampf, welcher in der Struktur des Lebens gegründet ist, ist ein Kampf zweier polarer Kräfte. Nennen wir sie Natur und Geist, oder das weibliche und männ-
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